Die schöne alte Perle

Reitwein an der Oder wird 700 Jahre alt

Reitwein feiert. Das ist nichts Neues. Wer Reitwein kennt, weiß, da ist immer etwas los. Im Frühjahr der traditionsreiche Heiratsmarkt, die Konzerte des Musiksommers in der besonderen Atmosphäre der Kirchruine, das Rock- und Bluesfestival, das regelmäßig auch internationale Größen nach Ostbrandenburg bringt. Aber Reitwein hat nicht nur Kultur zu bieten, vor allem ist es die Natur, die jedes Jahr viele Besucherinnen in die Perle des Oderbruchs lockt. Radfahren, wandern, skaten oder einfach mal ausspannen in der stillen Abgeschiedenheit der unberührten Idylle zwischen der Oder und dem Hügelwald des Reitweiner Sporns. Es gibt immer mehr als einen Grund nach Reitwein zu kommen.

Aber 2016 ist ein besonderes Jahr. Reitwein feiert den 700. Geburtstag und da gibt es jederzeit nicht nur einen Grund, sondern auch einen Anlass, rauszufahren an den Ostrand der Republik. Reitwein hat im Jubiläumsjahr jeden Monat etwas Neues zu bieten: von der Winterwanderung zur bewegten Reitweiner Geschichte bis zur Adventsfeier in der alten Stüler-Kirche, vom Fußballturnier bis zum Erntefest, vom Kindertag über die Rätsel-Schnitzeljagd bis zum Tanzabend – zu jeder (Tages- und) Jahreszeit ist für jeden etwas dabei.

Den Höhepunkt bildet die große Jubiläumsfeier am altbekannten Termin: Seit fast 100 Jahren reservieren viele Brandenburger und Berlinerinnen das Wochenende nach Pfingsten in ihrem Kalender für einen Ausflug zum Reitweiner Heiratsmarkt. Am 21. Mai 2016 stellen die Reitweiner ein besonderes Programm auf die Beine: Erstmals öffnen die verschiedenen Höfe ihre Tore, es gibt Kunsthandwerk zu bestaunen und eine Ausstellung zur Reitweiner Geschichte und noch vieles mehr. Wie könnte man dieses bemerkenswerte Dorf besser kennenlernen?

Denn bemerkenswert ist Reitwein. 1904 schrieb der Reitweiner Pfarrer Paul Schroeder gleich ein ganzes Buch über die Reitweiner Merkwürdigkeiten. Und damit war nicht das gemeint, was komisch oder seltsam, sondern einfach das, ‚was des Wissens wert und des Merkens würdig ist’. Er schrieb:

„Es ist ein schönes Fleckchen Erde, unser Reitwein, die Perle des Oderbruchs … Wer einmal an einem heiteren Frühlings- oder Sommertag einen Ausflug dahin unternommen hat, der wird das gewiss nicht bereut haben.“

Die Schwärmereien des Pfarrers haben auch heute noch ihre Gültigkeit. Reitwein ist kein typisches Oderbrucher Straßendorf. Es liegt nicht nur höher als die meisten Orte der sich von hier aus nach Norden erstreckenden Landschaft und blieb so bisher vom Hochwasser verschont. Es führt auch keine Bundes- oder Verbindungsstraße durch den Ort. Hierher fährt nur, wer genau hierher möchte.

ReitweinDie Stülerkirche grüßt schon von Weitem vom Hang des Reiweiner Sporns

Reitwein schmiegt sich an den Reitweiner Sporn, auch Reitweiner Nase genannt, den 81 m hohen Ausläufer einer Hügelkette. Wer in den Ort hineinfährt, wird von der Ruine der Stüler-Kirche gegrüßt, deren restaurierter Glockenturm aus rotem Backstein aus dem Mischwald des Hügels in den Himmel ragt. Im Frühjahr ist der Wald gesäumt von duftendem Flieder und durchsetzt mit den wunderschönen weißen Blüten der zahlreichen Robinien. In der Priesterschlucht betupfen die seltenen Adonisröschen die Wiesen mit ihrem leuchtenden Goldgelb.

Hinter dem Sporn öffnet sich die Landschaft zu einer befreienden Weite. Die Loose zwischen Dorf und Fluss, Felder und Obstbaumalleen, die der Bullergraben, das Bett der alten Oder, wie ein Band durchzieht. Vereinzelte Loosegehöfte von Bäumen umsäumt, Rehe, Hasen und Rebhühner. Im Frühjahr und Herbst sammeln sich hier die Kraniche und die Wildgänse zu Hunderten, um sich in der Thermik des Sporns in ihre Reiseflughöhe hinaufzuschrauben. An der Oder dann Auenlandschaften, wo Ausflügler schon einmal den Biber oder sogar den Fischotter zu Gesicht bekommen. Mit Wildblumen überwachsene Deiche, auf denen sich Radwege bis an die Ostsee ziehen, grasende Schafherden. Und über allem das Summen der Bienen.

Oderwiesen bei ReitweinDie Oderwiesen bei Reitwein im Sommer

Reitwein ist ein Imker- und ein Künstlerdorf. An jedem Ende gibt es den besten Honig aus Robinie, Linde, Raps und manchmal sogar Löwenzahn. Die wunderschöne Landschaft ernährt aber nicht nur die Bienen, die Wildtiere und den Menschen. Sie inspirierte auch schon Fontane, der Passagen seines Romans Vor dem Sturm in der Nähe von Reitwein ansiedelte. Und sie inspiriert heute die ortsansässigen Künstlerinnen zu Aquarell- und Ölbildern, außergewöhnlichen Keramiken, Skulpturen, Fotos und mehr. Im Jubiläumsjahr werden diese verschiedenen Werke der zahlreichen Reitweiner Künstler erstmals gemeinsam in einer Ausstellung zu sehen sein.

Die Reitweiner sind aber nicht nur stolz auf die Schönheit ihres Dorfes, sie blicken auch auf eine lange wechselvolle Geschichte zurück. Diese Geschichte begann schon lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung des Orts Ruthewyn im Jahre 1316. Ab dem 4. Jahrhundert wichen die Germanen in der Gegend den Slawen. Und noch heute sind oben auf dem Reitweiner Sporn die Reste von Burgwallanlagen zu bewundern, die slawische Stämme bereits im 8. Jahrhundert an dieser strategisch günstigen Stelle erbauten.

Die Zerstörung der slawischen Burganlage am Ende des 10. Jahrhunderts durch deutsche Fürsten leitete eine Geschichte ein, die immer wieder auch von Kriegen geprägt war. Im Jahr 1758 hatte Friedrich der Große vor der Schlacht bei Küstrin im Reitweiner Schloss sein Hauptquartier. Ein Jahr später erholte sich der preußische König dort nach der verheerenden Schlacht bei Kunersdorf.

Das 20. Jahrhundert brachte das düsterste Kapitel für die Gegend um Reitwein. „Am 2. Februar kam der Russe“ – die älteren Reitweiner erinnern sich voll Grauen an die Tage im Frühjahr 1945, als die Rote Armee auf ihrem Weg nach Berlin die Oder überquerte. Was folgte war die größte Schlacht aller Zeiten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland: die Schlacht um die Seelower Höhen. In nur kurzer Zeit starben Zehntausende Soldaten und Zivilisten.

Der Reitweiner Sporn ist noch immer durchfurcht von Laufgräben und Erdbunkern, unter ihnen der sogenannte Shukow-Bunker, von dem aus die Befehlshaber Tschuikow und Shukow den Sturm auf die Seelower Höhen führten. Auch im Dorf finden sich Spuren dieser Zeit. Wie in jedem Ort dieser Gegend gibt es in Reitwein eine Kriegsgräberstätte, und 70 Jahre nach Kriegsende werden noch immer Gefallene entdeckt und identifiziert, die in Reitwein ihre letzte Ruhe finden.

Ein Haus an der Hauptstraße fällt auf, auf dem sich außen eine Aufschrift in kyrillischer Schrift findet: das Fischerhaus. Die Bedeutung des alten Gebäudes geht aber vor die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zurück und liegt in seinem Inneren. Das Fischerhaus verfügt über eine sogenannte schwarze Küche, wie sie bis Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet war. Darin wurde gleichzeitig gekocht und im aufsteigenden Rauch der Feuerstelle geräuchert. Der Ruß färbte die Wände und den Abzug des kleinen fensterlosen Raumes pechschwarz.

ReitweinDas Reitweiner Schloss

Neben dem Fischerhaus schmücken noch mehrere weitere historische Gebäude den Ort. Unter ihnen die malerische Kita Birkenschlösschen, die beiden ehemaligen Schulhäuser und das alte Kinderheim am Ortsausgang. Andere sind nicht oder nur teilweise erhalten. Dazu zählt allen voran das Reitweiner Schloss, das im Krieg beschädigt und Anfang der 1960er Jahre abgerissen wurde. Eine Hecke, die die Umrisse des Schlosses markiert, erinnert an seinen Standort.

Aber Reitwein ist nicht nur geprägt von der Vergangenheit. Reitwein hat auch Zukunft. Jedes Jahr werden Kinder geboren – in den letzten zehn Jahren gab es bei knapp 500 Einwohnern nie weniger als 27 Kinder im Vorschulalter. Junge Reitweiner, die ausgezogen sind, um die Welt zu erkunden, kehren in ihre Heimat zurück. Und nach und nach ziehen neue Reitweiner her, die dem Charme des Orts erlegen sind. Die meisten dürften dem schwedischen Besucher zustimmen, der im Gästebuch einer Reitweiner Pension vermerkte: „Besser gewohnt habe ich nie!“

Wer nicht gleich umziehen möchte, aber neugierig geworden ist auf die Perle des Oderbruchs und seine Merkwürdigkeiten, der ist herzlich eingeladen zu den zahlreichen Festen und Veranstaltungen des Reitweiner Jubiläumsjahrs. Eine Übersicht über das Programm finden Sie HIER. Oder kommen Sie einfach so vorbei, um noch einmal Pfarrer Schroeder zu zitieren:

Sie werden es gewiss nicht bereuen!